Im Jahr 2005 vom europäischen Abgeordneten Michael Cramer initiiert, verläuft der insgesamt 10.400 Kilometer lange „Iron Curtain Trail“ entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs von Grense Jakobselv bei Kirkenes in Norwegen bis zum Schwarzen Meer. Rund 200 Kilometer des Radweges befinden sich auf österreichischem Boden. Neugierig geworden und nachdem ich selbst ein kleines Stück Probe gefahren bin, habe ich mich mit dem erfahrenen Radreisenden und Fotografen Mario Lang getroffen.
Lang ist nicht nur den gesamten Iron Curtain Trail mit seinem Faltrad abgefahren, sondern hält die Eindrücke von seinen diversen Reisen auch regelmäßig im Blog „Vorhang auf!“ fest. Bei Bier beziehungsweise Soda-Zitrone haben wir uns gemeinsam auf eine kurze Reise im Geiste begeben.

Lieber Mario, du bist den „Iron Curtain Trail“ von 2015 bis 2018 in mehreren Etappen gefahren. Was war für dich die Initialzündung die Strecke zu radeln? Wie viel Erfahrung hattest du als Radfahrer bevor du dich auf den Weg gemacht hast?

Ich war lange Zeit eigentlich nur ein Stadtradfahrer. Mit den Radreisen habe ich erst nach der Jahrtausendwende begonnen. Und das eher gemütlich von Wien nach Belgrad. Die Donau bin ich mehrfach entlanggefahren und irgendwann hat sich der Eiserne Vorhang quasi aufgedrängt. Ein Spezialthema von mir ist Punk in der ehemaligen DDR. Ich bin im Vorfeld von Wien nach Berlin geradelt und dort zwei Mal den Mauerradweg gefahren. Der Osten hat es mir angetan. Die Idee ist entlang des Ostseeradweges entsprungen. Nach einem Teilstück des Iron Curtain Trails ist mir klar geworden, dass ich gerne die komplette Strecke abradeln möchte. Während des Radfahrens hat man viel Zeit und irgendwann blühen Blumen im Kopf und man kommt auf Gedanken, die sich im Alltag nicht einstellen, es fehlt die Zeit um rumzuspinnen.

Wie haben sich die unterschiedlichen Etappen über die Jahre bei dir gestaltet? Bist du jemand, der die Dinge gerne durchplant oder die Dinge eher spontan auf sich zukommen lässt?

Ich lese mich schon im Vorfeld ein, aber der große Vorbereiter bin ich nicht. Bei meiner ersten Fahrt von Wien ans Schwarze Meer übernachtete ich immer in Pensionen. In Serbien, Bulgarien, Rumänien hat das damals fast nix gekostet. Vor der Nord-Etappe wuchs meine Angst vor den finnischen Preisen. Es reifte die Idee Zelt statt Zimmer. Als Testpilot habe ich mir auf der Strecke von Wien nach Riga ein mobiles Wohnheim auf den Packlträger geschnallt. Inzwischen ist mir das Zelt tausendmal lieber als irgendein anonymes Hotelzimmer. Manchmal wurde ich auch eingeladen und Menschen haben ein Schlafzimmer für mich hergerichtet. Vor allem in den südöstlichen Ländern denken die Leute, der ist arm, weil er mit dem Fahrrad unterwegs ist. Das Fahrrad wird oft als „Arme-Leute-Verkehrsmittel“ gesehen. Auffallend war: umso dünner die Brieftaschen der Menschen, umso größer ihre Herzen. Unglaubliche Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft.

Was hat dich auf der Iron-Curtain-Tour generell am meisten fasziniert?

Dass man auf solchen Reisen viele Freaks und Kasperln trifft, das meine ich im positivsten Sinne. Menschen, die einen kopfmäßig befruchten und inspirieren. Und natürlich die Natur. In Finnland ist die Attraktion die Landschaft – unberührte Gegenden und leider Millionen von Gelsen. So etwas habe ich noch nirgends erlebt, da half nur mehr ein Köpfler ins Zelt. Das hat die Erlebnisse natürlich ein wenig getrübt. Aber am meisten beeindruckt hat mich der „Wahnsinn“ der Geschichte und dass die Menschen aus ihr nichts lernen.
Der Eiserne Vorhang hat auch viel mit Deutschland, dem ganzen Kalten Krieg und dem Ost-West-Konflikt zu tun. Früher wurde skandiert – „Die Mauer muss weg!“ – und inzwischen werden wieder neue Zäune gebaut. In Bulgarien, in der Türkei und zwischen Ungarn und Serbien. Wir mauern uns freiwillig wieder ein! Natürlich zeigt man das nicht gerne her, man muss schon ein paar Kilometer abseits radln um die neuen Mauern zu spüren. Ich habe natürlich auch Fotos gemacht, um diesen wiederholten Wahnsinn zu dokumentieren. Stellenweise ist das wie zu Zeiten des Eisernen Vorhangs. Es gab Geisterorte am Ende der Welt und heute entstehen wieder solche Geisterorte.

Ich selbst war auf meiner kurzen Reise auf dem Iron Curtain Trail von Bratislava nach Jedenspeigen nicht nur von der Natur und Kultur zutiefst beeindruckt, sondern fand es auch überraschend wie viel auf der Strecke stellenweise los war. Hat sich das Publikum, das unterwegs ist, über die Jahre verändert?

Vor vielen Jahren hat es Strecken gegeben, da habe ich die Radfahrer an einem Tag an einer Hand abzählen können. Mittlerweile sind diese Zeiten vorbei. In Serbien oder Rumänien ist noch immer wenig los, aber bis Budapest brummt der Radverkehr. Früher waren es die Rad-Freaks, heute sind es Familienausflüge. Auch die anliegenden Länder haben erkannt, dass diese Art von Tourismus in Zukunft Geld bringen wird. Der Radtourismus boomt. In letzter Zeit wurden viele Stecken ausgebaut. Als ich vor vielen Jahren erstmals die Donau entlang gefahren bin, hat es noch nicht einmal Beschriftungen gegeben. Heute ist Verfahren ein Kunststück!

Was würdest du Leuten raten, die mit Radtouren beginnen möchten?

Ich finde es immer schön, wenn man von zuhause aus wegfahren kann. Meine erste Etappe war damals die Etappe von Wien bis nach Tsarevo am Schwarze Meer.
Von Wien aus empfiehlt sich auch die Strecke ins Dreiländereck Österreich/Ungarn/Slowenien. Oder in die andere Richtung, zuerst der slowakisch-österreichischen und später der tschechisch-österreichischen Grenze entlang. Es lässt sich auch Rad und Bahn wunderbar kombinieren. Das Schöne ist, dass man immer wieder zwischen den Ländern hin- und herpendelt. Bei Angern gibt es diese großartige Auto-Rad-Fähre über die March, die wirkt zwar etwas aus der Zeit gefallen, aber versprüht noch so einen richtigen Ostblock-Charme.

Du hast die gesamte Tour auf deinem Bromton-Faltrad zurückgelegt. Warum hast du dich für dieses Rad entschieden und wie waren/sind deine Erfahrungen?

Meine ersten Donaureisen bin ich noch mit einem klassischen Trekking-Bike gefahren. Später hat mich mein Freund, Uwe Mauch, aufs Faltrad gebracht.
Die Bodenbeläge auf diesen rund 11.000 Kilometern sind natürlich sehr unterschiedlich. Das geht vom feinsten Asphalt über Kopfsteinpflaster, Wald- und Rumpelwege bis hin zu Sandpisten, wo man verzweifelt. Auf Sand habe ich mir das Rad geschultert und bin marschiert, das war nicht lustig, aber besser als ein schweres herkömmliches Tourenrad samt Gepäck oder gar ein E-Bike zu schleppen. Ich bin überzeugter Bromtontäter.

Es wird sehr lange getüftelt bis etwas auf dem Markt kommt. Ich hatte über all die Jahre fast keine Reparaturen. Das Rad, das hier neben uns steht, hat insgesamt schon gute 30.000 Kilometer auf dem Buckel. Eine Frage, die mir regelmäßig von Nord bis Süd gestellt wurde: „Wohin fährst du?“ Bei der Antwort – „Wien“ – haben alle große Augen bekommen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: „Mit dem Rad!“
Viele Leute denken bei einem Faltrad an eine Art Spielzeug. Die Cooperative Fahrrad, die die Generalvertretung für Brompton hat, wirbt mit dem Slogan „made for the city“. Mein Slogan war immer – „made for touring“. Mittlerweile haben sie schon angefangen es auch als Tourenrad zu bewerben. Aktuell gibt es einen Klimabonus, wenn du dir ein Faltrad kaufst, bekommst du rund 600 Euro Förderung – das heißt, das Rad kostet dann 1.000 statt 1.600 Euro. Zusätzlich fährt ein Faltrad gratis mit in der Bahn. Ich bin kein Sportler, ich bin Reisender und es geht mir vielmehr darum zu zeigen, so eine Tour kann jeder/jede machen. In Bulgarien gab es viele Berge hintereinander und irgendwann war es genug: Taschen runter, Rad klein gemacht und den Daumen raus. In Bulgarien, wie generell in den südöstlichen Ländern, bleibt jedes zweite Auto stehen. Auf einer anderen Etappe hat es eine Woche durchgeregnet, da haben Rad und Fahrer den Bus genommen. So etwas geht nur mit einem Faltrad und das alles ohne Reservierung. Für mich ist mein Brompton das beste Reiserad!

Du dokumentierst deine Reisen mittels Blog. Wann und warum hast du damit angefangen?

Die Idee zum Blogschreiben ist mit dem Iron-Curtain-Trail gekommen. Wir wollten die ganze Tour auch kommerziell zart verwerten. Ich bin zwar in vielen Zeitungen einmal abgebildet worden, habe auch viel Ruhm und Ehre geerntet, aber das Monetäre hat nicht so gut funktioniert. Ich bin ein miserabler Geschäftsmann. Mir geht es viel mehr um das Reisen und weniger darum die Reisen danach zu verkaufen. Ich sehe mich auch nicht als Blogger. Ursprünglich wollte ich einfach nur Bilder mit Bildzeilen veröffentlichen, weil es natürlich mühsam ist, nach einem anstrengenden Radtag, wo man einfach nur noch essen, trinken und schlafen will, zusätzlich einen Text in die Tasten zu klopfen. Auf der anderen Seite kann man so jeden Tag Revue passieren lassen. So ein Blog ist eine Art Dokumentationsarchiv.
Ich habe ein Faible für Ost-Relikte, die noch immer versteckt in der Gegend herumstehen. In Estland habe ich von einem Propaganda-Stein aus Sowjet-Zeiten mit Fliegermotiven erfahren. Ich habe ihn auch gefunden, hinter einem Gebüsch versteckt, die Inschrift nicht mehr lesbar und die Farben verblasst, aber das Foto macht mich heute noch glücklich. Irgendwann steht der Stein nicht mehr, meine Abbildung bleibt der Geschichte erhalten.
Auf meinen Reisen geht es mir ums Entdecken und ums Abenteuer.

Hast du aktuell ein neues Projekt?

Meine nächste Reise führt von der Krakauer Straße nach Krakau, danach möchte ich von der Triester Straße nach Triest und von der Belgrader Straße nach Belgrad. Ich brauche immer ein Thema für meine Reisen. Es gibt auch einen Osloplatz oder eine Marokkanergasse. Auf jeden Fall werde ich wieder Blog schreiben und vielleicht wird es auch ein Buchprojekt geben, ausgeschmückt mit Geschichte und G’schichtln.

Bei deiner Fahrt auf dem Iron Curtain Trail gab es einige Ausstellungen…

Es gibt einen 40-minütigen Fotofilm, den ich gerne herzeige und auszugsweise aus meinem Reise-Blog lese. Es kommen aus dem Publikum immer viele Fragen über das Reisen, auf dem ersten Blick oft banal, aber alles Fragen, die ich mir auch selbst einmal gestellt habe. Die Antworten darauf habe ich mir in den Jahren sozusagen erradelt. Das Schöne für mich am Radfahren ist, dass man dabei Geschichte „erfahren“ kann. Ein Plädoyer fürs Fahrrad ist, dass man jede Grenze hautnah miterlebt. Mit dem Flugzeug fliegst du über Landesgrenzen, Regionen, Sprachen und Kulturen einfach drüber.
Ich habe auf all meinen Reisen keine negativen Erlebnisse oder gefährliche Situationen erlebt. Das Fahren auf der Straße ist oft die größte Gefahr. Viele Menschen haben Angst vor fremden Sprachen oder Kulturen – alles unbegründet. Rio Reiser von der Band „Ton Steine Scherben“, singt im Song „Der Traum ist aus“ die wunderbare Zeile: „Wir haben nichts zu verlieren außer unsere Angst!“ Angst ist eine Bremse und kein Motor!

Mario Lang wurde 1968 in Wien geboren. Seit dem Jahr 2000 arbeitet er als freiberuflicher Fotograf und Redakteur der Wiener Straßenzeitung «Augustin». Zudem leitet er als Musikarbeiter den Chor «Stimmgewitter Augustin». Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entdeckte er seine Liebe zum Osten.

www.vorhangauf.international
www.mariolang.com

Titelbild: Mario Lang mit dem Faltrad am Ziel seiner Reise am Schwarzen Meer © Mario Lang

Geschrieben von Sandra Schäfer